Gewissen und Gewissensschutz
Thomas Zimmermanns

Vom Gewissen wird häufig gesprochen, und zwar nicht nur in Kirche und Theologie, sondern auch in der Politik und im Alltag. Viele begründen und rechtfertigen ihr Handeln unter Berufung auf ihr Gewissen oder erklären, dass sie bei einem bestimmten Tun ein gutes Gewissen hätten. Anderen wiederum wird gesagt, dass sie bei ihrem Handeln ein schlechtes Gewissen haben müssten. Und doch sind sich nur Wenige bewusst, was das Gewissen eigentlich ausmacht und welche theologischen und auch juristischen Konsequenzen sich daraus ergeben.
Mir geht es mit diesem Aufsatz vor allem darum, darzustellen, dass das Gewissen nicht nur Gegenstand theologischer und philosophischer Forschungen und Erkenntnisse ist, sondern dass es ein wesentliches Element des Menschseins ausmacht und sein Schutz deshalb unter dem Aspekt des Schutzes der Menschenwürde auch Gegenstand der Rechtsordnung sein muss. Schwerpunkt ist neben dieser Feststellung und ihrer Begründung deshalb die Darstellung der grundgesetzlichen Regelung des Gewissensschutzes in Art. 4 Abs. 1 GG sowie in anderen Rechtsnormen und der Auslegung dieser Norm durch die bundesdeutsche Rechtsprechung anhand einiger aus christlicher Sicht wichtiger Beispiele. Auch auf die Regelung des Gewissensschutzes in Art. 9 Abs. 1 EMRK (Europ. Menschenrechtskonvention) und auf die Rechtsprechung des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), die für sämtliche Staaten der EU von immer größerer Bedeutung ist, wird dabei eingegangen. Als Ergebnis wird dabei festgestellt werden müssen, dass dieser ethisch gebotene und auch rechtlich verankerte Gewissensschutz sowohl in Deutschland als auch in vielen anderen EU-Staaten zunehmend ausgehöhlt wird und Christen unter Androhung und Anwendung schärfster rechtlicher Sanktionen auf immer mehr Rechtsgebieten gezwungen werden, Dinge zu tun und zu akzeptieren, die sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können und diese Sanktionen auf sich nehmen müssen, wenn sie sich weigern.
Zugleich wird dabei deutlich gemacht, dass die Interpretation der gewissensschützenden Normen durch die Rechtsprechung sowohl der obersten deutschen Gerichte als auch des EGMR weder den aufgrund der Bedeutung der Gewissensentscheidung gebotenen Grundsätzen noch den nach geschriebenem Recht maßgeblichen Normen entspricht und dass es in Deutschland wie auch in vielen anderen EU-Staaten sehr bedenkliche und gefährliche Bestrebungen gibt, die darauf abzielen, insbesondere das an die Bibel und an christliche Ethik gebundene Gewissen ihrer Staatsbürger nicht zu respektieren, sondern es durch Strafen und Sanktionen zu beugen und auch – v.a. in Unterricht und Erziehung – im Sinne der heutigen Ethik umzuprägen.
Vorausschicken muss ich des Weiteren, dass ich der Überzeugung bin, dass die Bibel verbindliche Aussagen nicht nur zu Fragen des Glaubens, des Menschenbildes, der Gemeinschaft der Gläubigen (Kirche, Gemeinde) und der privaten Ethik macht, sondern auch zu Fragen, die Staat, Politik und Rechtsordnung betreffen und dass diese biblischen Aussagen auch heute noch Gültigkeit und Autorität beanspruchen, sodass ich sie zur Grundlage meines Denkens und auch dieses Aufsatzes mache, auch wenn eine solche Auffassung in Deutschland und vielen anderen EU-Staaten heute weithin als „fundamentalistisch“ bewertet und abgelehnt, ja geächtet wird. Geht man hinsichtlich des Gewissens, des Wesens einer Gewissensentscheidung oder hinsichtlich der für den Staat maßgeblichen Normen und Grundsätze von anderen religiösen oder weltanschaulichen Denkvoraussetzungen aus, so gelangt man naturgemäß zu anderen Ergebnissen.

1. Das Gewissen

„Das Gewissen ist das einfachste und eindeutigste Zeichen für die besondere Würde des Menschen. In ihm haben wir das zu sehen, was den Menschen eigentlich erst zum Menschen macht. Mit der Frage nach dem Gewissen rühren wir sozusagen an das Geheimnis des Menschseins überhaupt“.1) (Quellenangaben am Ende des Artikels)
Was das Gewissen ausmacht, was dem Menschen durch sein Gewissen vermittelt wird und wie diese Erkenntnisse und die daraus resultierenden Gewissensentscheidungen ethisch zu bewerten sind, ist naturgemäß zwischen den einzelnen theologischen und weltanschaulichen Überzeugungen umstritten. Diese will ich hier jedoch nicht näher darstellen, sondern v.a. auf das Verständnis des Gewissens aus christlich-biblischer Sicht näher eingehen:
Nach biblischer Lehre ist das Gewissen eine in jedem Menschen vorhandene Instanz, durch die Gott zu dem Menschen spricht und ihm seine Maßstäbe von Gut und Böse vermittelt. Das können wir Bibelstellen wie Ps 16,7 und Jer 31,33 entnehmen, wo es heißt: „Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts“ (Ps 16,7) und „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein“ (Jer 31,33). Mit „Herz“ ist hier wie auch sonst des Öfteren in der Bibel das Gewissen gemeint. Die Bibel sagt in Röm 2,14-16, dass Gott seine Maßstäbe sogar denjenigen Menschen durch ihr Gewissen vermittelt, die die Bibel nicht kennen, in der diese Maßstäbe enthalten sind, auch wenn anzunehmen ist, dass es sich bei den nur durch das Gewissen vermittelten Normen nur um einige grundlegende Gebote Gottes handelt, und nicht um sämtliche Gebote des Alten und Neuen Testaments. Gott spricht durch das Gewissen zu jedem Menschen besonders vor Handlungen von ethischer Relevanz und warnt ihn vor der Begehung von bösen Taten und rät ihm in solchen Entscheidungssituationen, das Gute zu wählen und zu tun. Auch nach einer solchen Handlung meldet sich Gott durch das Gewissen, indem dieses Zustimmung oder Verurteilung der Tat kundgibt. Man spricht von einem „guten“ und von einem „schlechten“ Gewissen, von „Gewissensbissen“, ja sogar von „Gewissensqualen“, wenn das Gewissen die böse Tat eines Menschen verurteilt hat und sich anklagend und verurteilend zu Wort meldet. Wir können dies etwa aus Ps 16,7, 73,21 und Joh 8,9 entnehmen. Umgekehrt erklärt Paulus in 1. Kor 4,4, dass er bei seinem Dienst in der Gemeinde in Korinth ein gutes Gewissen hatte und in Apg 24,16 sagt er dem römischen Statthalter Felix, dass er sich übe, allezeit ein unverletztes Gewissen vor Gott und den Menschen zu haben. Das Gewissen ist aber nicht Gottes Stimme im Menschen; wäre dies so, dann wären die Urteile des Gewissens immer zutreffend und würden immer den biblischen Maßstäben entsprechen. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn aufgrund eines beständigen Handelns gegen die Stimme des Gewissens, aber auch durch eine Erziehung und ein Leben in einer Kultur, deren Wertmaßstäbe denen christlicher Ethik widersprechen, kann das Urteil des Gewissens den biblischen Maßstäben u.U. sogar völlig widersprechen und etwa Handlungen gebieten und loben, die diesen völlig widersprechen und umgekehrt Handlungen verurteilen und missbilligen, die durchaus erlaubt oder sogar geboten sind. Man spricht deshalb in solchen Fällen zu Recht von einem „abgestumpften“ oder sogar von einem „pervertierten“ Gewissen.
Gott möchte aber, dass die Gläubigen ein gutes Gewissen haben und bewahren; deshalb heißt es in Hebr 13,18: „Unser Trost ist es, dass wir ein gutes Gewissen haben“. Ein gutes Gewissen vor Gott haben können die Gläubigen aber nur dann, wenn sie ihr Gewissen nach den Normen und Maßstäben biblischer Ethik und damit nach dem Wort Gottes, der Bibel, ausrichten und entsprechend handeln.
Aus der Bibel geht ferner hervor, dass ein Mensch, der gegen sein Gewissen handelt, sündigt, und zwar selbst dann, wenn seine Tat eigentlich, d.h. nach den Maßstäben der in der Bibel geoffenbarten Gebote Gottes, keine Sünde ist (vgl. z.B. Röm 14,23; 1. Kor 10,28). Dies beruht darauf, dass ein solcher Mensch Gottes Gebote zwar objektiv nicht übertritt, jedoch subjektiv meint, sie zu übertreten und mit seinem Tun beweist, dass er zu einer solchen Übertretung gewillt und bereit ist. Damit aber lehnt er sich mit seiner Tat und mit seinem Willen gegen Gott und seine Gebote auf.

2. Die Notwendigkeit des Gewissensschutzes durch die Rechtsordnung

Das menschliche Gewissen ist aber nicht nur Gegenstand von Theologie und Seelsorge, sondern auch von Bedeutung für die Rechtsordnung. Es geht hierbei um den rechtlichen Schutz des Gewissens, genauer gesagt desjenigen Menschen, der sich für ein Verhalten, das im Widerspruch zu einer Norm des staatlichen Rechts steht, auf sein Gewissen beruft. Als erstes soll hier dargelegt werden, warum eine solche Gewissensentscheidung von der Rechtsordnung grundsätzlich toleriert und geschützt werden muss.
Gegen sein Gewissen handeln zu müssen und damit (zumindest nach seiner gewissensmäßigen Überzeugung) Böses zu tun oder Gutes zu unterlassen bedeutet für jeden Menschen einen schwerwiegenden inneren Konflikt, da die hieraus entstehenden Gewissensbisse oder sogar Gewissensqualen in gleicher Intensität in seine Existenz eingreifen wie Hunger, Durst, heftige Schmerzen oder Freiheitsentzug, möglicherweise sogar noch tiefer, da das Gewissen – jedenfalls das an eine Religion gebundene Gewissen – eine metaphysische Dimension hat und dem Menschen, der bewusst gegen sein Gewissen handelt, den Zorn und die bevorstehende ewige Strafe Gottes bzw. des oder der in den nichtchristlichen Religionen als Gott oder Götter angesehenen Wesen(s) vermittelt. Hinzu kommt, dass ein Mensch, der gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, sich als verantwortlich handelndes ethisches Subjekt nicht ernst genommen sieht und sich als bloßes Objekt staatlicher oder sonstiger Macht und deren Zwangsmittel empfindet. Gott gebietet den Gläubigen in Apg 5,29: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, d.h. menschliche und auch staatliche und gesetzlich verankerte Gebote, die Gottes Geboten widersprechen, darf man als Christ nicht befolgen, weil Gottes Gebote einen höheren Rang haben als mit ihnen kollidierende staatliche Normen. Denn Gott ist für die Gläubigen der oberste Herr und Gesetzgeber. Das Gewissen und das Recht, ihm gemäß zu handeln, ist aber nicht nur für die Christen, sondern für alle Menschen wesentliches Element des Menschen in seiner Eigenschaft als Geschöpf Gottes und berührt daher die Menschenwürde, deren Schutz gem. Art. 1 GG oberstes Prinzip des Staates ist. Aber auch unabhängig von dem grundgesetzlich verankerten Schutz der Menschenwürde darf kein Rechtsstaat seinen Bürgern der inneren Not aussetzen, die sich aus einem Zwang ergibt, gegen ihr Gewissen handeln zu müssen und er darf dementsprechend den Menschen nicht bestrafen, der entsprechend seinem Gewissen handeln will. Dies gilt jedenfalls als allgemeiner Grundsatz; dass es keinen absoluten und uneingeschränkten Gewissensschutz geben kann und darf, wird noch näher ausgeführt werden.
Die Frage des Gewissensschutzes stellt sich allerdings nur dann, wenn es Gesetze gibt, die im Widerspruch zum Gewissen des betreffenden Bürgers stehen. Befindet sich die Gewissensentscheidung des Bürgers im Einklang mit der Rechtsordnung, so bedarf es keines besonderen Gewissensschutzes. Hier liegt seit einiger Zeit ein immer größer werdendes Problem, denn in den Ländern des christlichen Abendlandes sollte es eigentlich nicht so sein, dass Gesetze existieren, deren Befolgung einem christlichen Gewissen widerspricht oder die Meinungsäußerungen und Tätigkeiten verbieten, die für einen Christen nach Gottes Willen geboten sind. Dass es sich dennoch so verhält und dass solche Gesetze immer mehr zunehmen, ist eines der am meisten bedrängenden Probleme unserer Zeit. Hierzu werde ich unter 4. eine Reihe von Beispielen nennen.
Aufgrund des zuvor Gesagten gebietet es der Schutz der Menschenwürde und der Grundsatz der Gerechtigkeit auch, dass nicht nur das christliche, d.h. an biblischen Normen und Überzeugungen gebundene Gewissen geschützt ist, sondern auch das von anderen Religionen und Weltanschauungen oder lediglich von humanistischer Ethik geprägte Gewissen. Denn auch für Nichtchristen bedeutet der Zwang, gegen ihr Gewissen handeln zu müssen und anderenfalls staatlichen Sanktionen ausgesetzt zu sein, in gleicher Weise wie bei Christen einen tiefen Eingriff in ihre Persönlichkeit. Andererseits kann und darf der Staat nicht jede Gewissensentscheidung schützen. So kann der Rechtsstaat es nicht tolerieren, wenn jemand unter Berufung auf sein Gewissen andere Menschen töten will (etwa bei der Blutrache oder den sog. Ehrenmorden) oder wenn jemand unter Berufung auf sein Gewissen eine lebensrettende Bluttransfusion für sein Kind verweigert. Zwar verdient grundsätzlich auch das irrende Gewissen rechtlichen Schutz, da die Gewissensnot auch bei einem irrenden Gewissen bei dem Ansinnen entsteht, gegen sein Gewissen zu handeln, jedoch ist der Gewissensschutz kein absoluter Wert, der Vorrang vor allen anderen Rechtsgütern hätte und in den genannten Fällen hat der Schutz des menschlichen Lebens Vorrang gegenüber der Pflicht zur Respektierung der Gewissensentscheidung. Hierbei sei angemerkt, dass ein an biblische Ethik gebundenes Gewissen niemals eine Entscheidung fordert oder erlaubt, die gegen das 5. Gebot („Du sollst nicht morden“) verstößt oder lebensrettende und -erhaltende Maßnahmen verweigert.
Nur eine Handlung oder Unterlassung, die durch das Gewissen geboten ist, kann Gewissenschutz beanspruchen und nicht schon eine Handlung oder Unterlassung, die das Gewissen des Betreffenden lediglich erlaubt. Denn wenn das Gewissen eine bestimmte Handlung, die der Rechtsordnung widerspricht, lediglich erlaubt, kann keine Gewissensnot entstehen, wenn er sie unterlässt.
Hingegen wird der Gewissensschutz nicht in jedem Fall dadurch ausgeschlossen, dass der Betreffende bei Begründung seines arbeits- oder dienstrechtlichen Verhältnisses weiß oder damit rechnen muss, dass er Tätigkeiten verrichten muss, die im Widerspruch zu seinem Gewissen stehen werden. Denn die oben genannte Auffassung würde bedeuten, dass etwa Christen auf eine Bewerbung und Anstellung als Frauenarzt in einem Krankenhaus immer dann verzichten müssen, wenn sie damit rechnen müssen, dass von ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit auch die Mitwirkung an Abtreibungen verlangt wird. Das Gleiche würde für Künstler an einem städtischen oder privaten Orchester gelten, wenn sie damit rechnen müssen, dass sie bei blasphemischen Darbietungen mitwirken müssen. Dies würde praktisch einen Verzicht für Christen auf bestimmte Berufe bedeuten2) und in all diesen Fällen würde der Schutz des Gewissens von Vornherein umgangen.
Auch kann von den Betreffenden in den genannten Beispielen nicht verlangt werden, ihre glaubens- und gewissensmäßige Überzeugung in diesen Fragen von Vornherein, etwa in ihrem Bewerbungsgespräch, offenzulegen. Denn dies hätte höchstwahrscheinlich zur Folge, dass sie die begehrte Anstellung gar nicht erst erhalten. Auch dann könnte von Gewissensschutz keine Rede mehr sein, denn Gewissensschutz bedeutet nicht nur, dass die Gewissensentscheidung respektiert wird, sondern auch, dass der Betreffende wegen seiner Gewissensentscheidung keine Nachteile erleidet.
Ohne Bedeutung ist es schließlich ferner, ob die Gewissensentscheidung von einem größeren oder kleineren Teil der Bevölkerung oder u.U. nur von ganz wenigen geteilt wird. Auch kommt es nicht darauf an, ob der über dieses Handeln entscheidende Richter sie teilt.

3. Der Schutz des Gewissens im bundesdeutschen Grundgesetz und in der EMRK

Im bundesdeutschen Grundgesetz heißt es in Art. 4 Abs. 1: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. Und in Art. 4 Abs. 3 GG war zurzeit der Geltung der allgemeinen Wehrpflicht ein praktisch wichtiger Fall des Gewissensschutzes geregelt und anerkannt, nämlich die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.
In den Prozessordnungen der einzelnen Gerichtszweige wird die Gewissensentscheidung geschützt, keinen Eid mit religiöser Beteuerung oder auch überhaupt keinen Eid leisten zu wollen (vgl. z.B. § 64 Abs. 2 und § 65 StPO für den Strafprozess und §§ 481 Abs. 2, 484 ZPO für den Zivilprozess); für den Fall einer generellen Eidesverweigerung aus Gewissensgründen sieht das Gesetz eine eidesgleiche Bekräftigung der Wahrheit der Aussage anstelle des Eides vor.
Das Recht von Ärzten, Krankenschwestern und anderen Hilfskräften, jede Mitwirkung an einer Abtreibung aus Gewissensgründen zu verweigern, ist in § 12 Abs. 1 SchKG (Schwangerschaftskonfliktgesetz) verankert.3)
Die Rechtsprechung des BVerfG (Bundesverfassungsgericht), des BVerwG (Bundesverwaltungsgericht) und des BAG (Bundesarbeitsgericht) versteht unter einer Gewissensentscheidung „jede ernstliche sittliche, d.h. an den Kategorien von „Gut“ und “Böse“ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“.4) Ein Abweichen von der Gewissensüberzeugung muss die Identität und Integrität des Grundrechtsträgers gefährden.5) Von Art. 4 Abs. 1 GG geschützt ist nicht nur die Gewissensüberzeugung, sondern auch das Handeln entsprechend einer Gewissensentscheidung.6) Das Handeln muss für den Betreffenden aufgrund einer Gewissensentscheidung verpflichtend sein, was von ihm glaubhaft gemacht werden muss. Das bedeutet, dass der Betreffende glaubhaft machen muss, warum sein Handeln oder seine Weigerung von seinem Gewissen geboten ist bzw. warum das von ihm verlangte und von ihm verweigerte Handeln gegen sein Gewissen verstößt. Diese Gewissensnot kann etwa dadurch glaubhaft gemacht werden, dass er nachweist, dass er einer Kirche oder Glaubensüberzeugung angehört, die dieses Handeln als geboten bzw. als verboten ansieht.
In die Gewissensfreiheit wird eingegriffen, wenn ein zum Schutz der Grundrechte Verpflichteter (d.h. in der Regel ein staatliches Organ) die durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit geschützten Tätigkeiten durch Gesetz oder faktisch in erheblicher Weise behindert.7)
Jedoch ist die Gewissensfreiheit nach Auffassung des BVerwG durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt, wobei für echte Eingriffe eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist.8) Insbesondere werde die Gewissensfreiheit durch die Grundrechte Dritter begrenzt.
Hinsichtlich des Gewissensschutzes gegenüber Eingriffen von Privaten (v.a. von Arbeitgebern) kommt die Gewissenfreiheit (nur) mittelbar zur Geltung, indem solche Eingriffe sittenwidrig (§ 138 Abs. 1 BGB) sind oder gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen.9) Insoweit soll von großer Bedeutung sein, ob der Gewissenskonflikt bei der Bewerbung bzw. bei der Übernahme der Tätigkeit vorhersehbar war.10)
Das Recht zur Verweigerung des – seinerzeit gesetzlich vorgeschriebenen – Kriegsdienstes mit der Waffe gem. Art. 4 Abs. 3 GG setzte voraus, dass der Betroffene aufgrund einer zwingenden Gewissensentscheidung im Hinblick auf den mit dem Kriegsdienst verbundenen Zwang zum Töten nur unter schwerer seelischer Not imstande ist, am Kriegsdienst mit der Waffe teilzunehmen.11) Diese Entscheidung musste nach herrschender Auffassung schlechthin und nicht nur für bestimmte Kriege, Situationen oder Waffen gelten.12)
Auch in Art. 9 Abs. 1 EMRK wird neben der Gedanken- und der Religionsfreiheit auch die Gewissensfreiheit geschützt. Die Gewissensfreiheit umfasst das Recht auf Ausbildung und Betätigung des Gewissens.13) Diese Garantie bezweckt den Schutz des innersten Kerns der menschlichen Selbstbestimmung und damit die Respektierung der individuellen Persönlichkeit.14) Sie schützt auch solche Gewissensentscheidungen, die nicht durch ein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis motiviert sind.15)
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die gesetzlichen Regelungen des Schutzes der Gewissensfreiheit zwar den staatlichen Organen sowie Privatpersonen (z.B. Arbeitgebern) einen weitreichenden Spielraum überlassen, jedoch bei sachgerechter Auslegung, d.h. bei Berücksichtigung der unter 2. genannten Grundsätze weitgehend ausreichen, um einen effektiven Gewissensschutz zu gewährleisten. So ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 GG und den dazu entwickelten oben genannten Grundsätzen eindeutig, dass Eltern berechtigt sind, Kinder vom Besuch von Unterrichtsveranstaltungen abzumelden, wenn die Teilnahme von ihrem Inhalt her dem Gewissen der Sorgeberechtigten widerspricht, weil sie der Überzeugung sind, dass die im Unterricht vermittelten Inhalte ihren Kindern seelischen und geistlichen Schaden zufügen. Und dass die Teilnahme an Veranstaltungen, in denen Homosexualität sowie vor- und außereheliche Sexualität propagiert werden oder den Schülern sogar bestimmte Sexualpraktiken gezeigt oder vermittelt werden oder in denen okkulte Praktiken vermittelt oder entsprechende Filme gezeigt werden, geeignet ist, dem Gewissen christlicher Eltern zu widersprechen, dürfte jedenfalls dann offenkundig sein, wenn die Eltern nachweisen können, dass sie einer christlichen Gemeinde (oder auch einer nichtchristlichen Religionsgemeinschaft) angehören, in der dies als Sünde angesehen wird. Gleiches dürfte für Klassenfahrten gelten, wenn die ernsthafte Befürchtung besteht, dass die Kinder dabei Alkohol, Drogen oder sexueller Verführung ausgesetzt werden. Auch die Indoktrination ihrer Kinder mit der Evolutionslehre wird von manchen Eltern als mit ihrem Gewissen unvereinbar angesehen. Der Gewissensschutz müsste umso mehr gelten, als durch solche schulische Maßnahmen auch in das elterliche Erziehungsrecht eingegriffen wird, das in Art. 6 Abs. 2 S.1 GG ebenfalls grundrechtlich geschützt ist. Dort heißt es: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“.
Der Gewissensschutz müsste dann ferner dazu führen, dass juristische Sanktionen gegen die entsprechend ihrem Gewissen handelnden Eltern wie z.B. Geld- oder Freiheitsstrafen oder der Entzug des Sorgerechts ausgeschlossen sind.
Auch die Ablehnung der Vermietung einer Wohnung oder Ferienwohnung oder eines Hotelzimmers an unverheiratete Paare (sowohl homo- wie auch heterosexuelle Paare) müsste nach diesen Kriterien in Deutschland selbst unter der Geltung des AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) vom Gewissensschutz umfasst sein, wenn ein Vermieter darlegen kann, dass er das geschlechtliche Zusammenleben solcher Paare als Sünde ansieht und es seinem Gewissen widerspricht, diesem Zusammenleben durch die Vermietung von Räumen Vorschub zu leisten.
An und für sich sollte es hier auf die Regelungen des Gewissenschutzes gar nicht ankommen, weil die grundrechtlich (Art. 2 Abs. 1 GG) geschützte Privatautonomie es jedem Bürger freistellt, mit wem er Miet- und andere Verträge abschließen will. Die Privatautonomie wurde jedoch durch das im Jahr 2006 in Kraft getretene AGG erheblich eingeschränkt.
Aber auch dann müssten aufgrund des Gewissensschutzes juristische Sanktionen wie z.B. Schadensersatzansprüche oder gerichtliche Verpflichtung zum Abschluss des Mietvertrages ausgeschlossen sein.
Der Gewissensschutz gläubiger Künstler gebietet es, nicht an musikalischen und anderen Aufführungen blasphemischen oder pornographischen Inhalts mitwirken zu müssen, ohne eine Kündigung oder Abmahnung befürchten zu müssen.
Im folgenden Abschnitt soll jedoch geprüft werden, ob die Auslegung dieser Bestimmungen durch die deutschen und europäischen Gerichte den Gewissensschutz tatsächlich ausreichend gewährleistet.

4. Die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 GG und von Art. 9 Abs. 1 EMRK durch die bundesdeutsche und die EU-Rechtsprechung

Auf dem lange Zeit sehr bedeutsamen Gebiet der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wurde die höchstrichterliche Rechtsprechung der Durchsetzung dieses Grundrechts weitestgehend gerecht. Man kann hier lediglich auf der einen Seite beanstanden, dass die Darlegungslast des Verweigerers hinsichtlich der Echtheit seiner Gewissensentscheidung insbesondere von den unteren Gerichten mitunter überspannt wurde und auf der anderen Seite, dass ein begrenztes Eintreten des Verweigerers für aktive Sterbehilfe oder für Abtreibung einer Gewissensentscheidung, die auf einer generellen Ablehnung des Tötens beruht, nicht entgegengestanden habe.16)
Auch der in § 12 Abs. 1 SchKG verankerte Gewissensschutz hinsichtlich der Weigerung der Mitwirkung an Abtreibungen wird auch in der Praxis anerkannt.17) Allerdings ist zu befürchten, dass es indirekte Zwänge gibt, welche christlicher Ethik verpflichtete Ärzte diskriminieren und auch ihre Berufschancen begrenzen.18)
In diesem Zusammenhang ist auch Bedeutung, dass es innerhalb der EU starke Bestrebungen gibt, diesen Gewissensschutz hinsichtlich der Teilnahme an Abtreibungen wie auch an aktiver Sterbehilfe und Beihilfe zum Selbstmord zu beseitigen. Im Oktober 2010 wurde ein entsprechender Vorstoß einer Politikerin der britischen sozialistischen Labour-Partei vom Europarat mit knapper Mehrheit abgelehnt.19) Aber es ist anzunehmen, dass die Kräfte, die den Gewissensschutz beseitigen wollen, mit der Durchsetzung ihrer Ziele nicht ruhen werden und diese im Zuge der derzeitigen europaweiten politischen und ethischen Entwicklung in nicht allzu ferner Zukunft auch durchsetzen.
Der Gewissensschutz von Eltern, die ihre Kinder wegen der oben geschilderten Unterrichtsinhalte nicht mehr am schulischen Unterricht teilnehmen lassen oder sie sogar nur vom Sexualkundeunterricht (oder auch nur von einzelnen Unterrichtsstunden) oder von Unterrichtsstunden, in denen okkulte Praktiken propagiert und/oder praktiziert wurden, abmeldeten, wird auch jetzt schon seit Langem nicht mehr anerkannt.
Das BVerfG hatte im Jahr 1977, als es über die Zulässigkeit der Einführung des Sexualkundeunterrichts in den Schulen zu entscheiden hatte, noch Folgendes ausgeführt: „Die Sexualerziehung in der Schule muss für die verschiedenen Wertvorstellungen auf diesem Gebiet offen sein und allgemein Rücksicht nehmen auf das natürliche Erziehungsrecht der Eltern und auf deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, soweit diese für das Gebiet der Sexualität von Bedeutung sind. Die Schule muss insbesondere jeden Versuch der Indoktrinierung der Jugendlichen unterlassen“.20) Wären diese Voraussetzungen der Zulässigkeit des Sexualkundeunterrichts eingehalten worden, so wäre der Gewissensschutz von Eltern, die die Propagierung von Homosexualität und Unzucht im Unterricht ablehnen, gewahrt worden, denn dann wäre eine solche Indoktrination gar nicht erst möglich gewesen geschweige denn, die Schüler durch Filme, bildliche Darstellungen oder „praktische Übungen“ dazu hinzuführen. Aber diese Richtlinien wurden und werden eben von Anfang an nicht eingehalten…
Spätestens seit etwa 2000 änderte sich die Haltung der Gerichte jedoch entscheidend:
Ein Elternpaar aus Hessen, das seine Kinder aus christlich motivierten Gewissensgründen vom Sexualkundeunterricht abmeldete, wurde wegen Verstoß gegen das Schulpflichtgesetz angeklagt. In erster Instanz wurde das Elternpaar noch freigesprochen und ihre Berufung auf ihr Gewissen anerkannt, doch schon die Berufungsinstanz (LG Gießen) verurteilte sie zu einer Geldstrafe. Die Revision hiergegen wurde vom OLG Frankfurt zurückgewiesen und das BVerfG nahm ihre Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Schließlich entschied auch der EGMR gegen die Eltern. Begründet wurden die Entscheidungen der deutschen Gerichte damit, dass das staatliche Erziehungsrecht Vorrang vor dem elterlichen Erziehungsrecht habe. Die Zulassung von Hausunterricht in solchen Fällen würde die gesellschaftspolitisch unerwünschte Entstehung von Parallelgesellschaften begünstigen. Es sei nicht vom Grundrecht der Gewissensfreiheit gedeckt, wenn Eltern unter Berufung auf ihr Gewissen ihre Kinder dem in der Schule herrschenden Pluralismus entziehen wollten. Schließlich bestände die Möglichkeit, die Kinder auf (christliche) Privatschulen zu schicken. Oftmals wird von den Gerichten auch betont, dass der Sexualkundeunterricht, um den es im Einzelfall geht, nicht gegen das Gebot der staatlichen Neutralität und Toleranz verstoße und dass die Eltern nicht beanspruchen könnten, dass ihre Kinder „vollständig von fremden Glaubensüberzeugungen und Ansichten verschont“ bleiben.21)
Hierzu wäre zu sagen, dass nach der Ordnung des Grundgesetzes das elterliche Erziehungsrecht dem staatlichen Erziehungsrecht gleichgeordnet ist. Art. 7 Abs. 1 GG, wonach das gesamte Schulwesen der staatlichen Aufsicht untersteht. ist keine spezielle Norm zu Art. 6 Abs. 2 GG.22) Auch binden die staatlichen Erziehungsziele nicht die Eltern.23)
Ferner ist der Sexualkundeunterricht in der Praxis nicht weltanschaulich neutral oder wissenschaftlich objektiv. Es werden in ihm nicht lediglich wertneutrale Informationen über Sexualität, die Entstehung menschlichen Lebens und Geschlechtskrankheiten vermittelt,24) sondern den Schülern wird zumeist vermittelt, dass jeder einvernehmliche (sowohl homo- als auch heterosexueller) Geschlechtsverkehr ethisch nicht zu beanstanden sei und es werden den Schülern hierbei oftmals auch Details und Praktiken gezeigt und ihnen ausdrücklich oder stillschweigend empfohlen, diese auszuprobieren.
Schließlich schützt das Grundgesetz nicht die politischen Ziele der Schulen und Landesregierungen, die heute vorherrschende Sexualethik in den Schulen zu vermitteln und durchzusetzen und auch nicht ihre politischen Ziele, die Entstehung von Parallelgesellschaften zu verhindern, wohl aber das Gewissen von Schülern und Eltern, wenn dieses ihnen gebietet, dass sie bzw. ihre Kinder an solchem Unterricht nicht teilnehmen dürfen. Dass es für gläubige Christen, aber auch z.B. für Moslems oder Zeugen Jehovas zu einem solchen Gewissenskonflikt kommen kann, ist offenkundig: Die Kinder müssten es bei dieser Art von Sexualkundeunterricht ertragen, dass ihr Lehrer Handlungen, die nach ihrer Überzeugung bzw. der ihrer Eltern sündhaft sind, als ethisch positiv bewertet und den Schülern u.U. sogar eine entsprechende Betätigung empfiehlt, und das oftmals über viele Unterrichtsstunden hinweg. Dies kann bei den Schülern zu schwerwiegenden inneren Konflikten führen. Und bei den Eltern entsteht die Gewissensnot dadurch, dass sie ihre Kinder einer solchen ethisch negativen Beeinflussung aussetzen, indem sie sie an diesen Unterrichtsinhalten teilnehmen lassen. Beides gilt noch mehr, wenn den Schülern sogar entsprechende Handlungen und Praktiken etwa in Bildern und Filmen gezeigt werden.
Auch die Gewissensentscheidung von Eltern, ihre Kinder aufgrund dessen überhaupt nicht mehr am Schulunterricht teilnehmen zu lassen, ist rechtlich schutzwürdig, wenn gewährleistet ist, dass die erforderliche Bildung und Erziehung in anderer Weise, etwa durch qualifizierten Haus- oder Privatunterricht sichergestellt ist.
Nach Auffassung des BVerwG25) konnten sich Eltern, die ihre Kinder nicht an einem im Rahmen des Schulunterrichts gezeigten Film „Krabat“ teilnehmen ließen, nicht auf Gewissensfreiheit berufen, obwohl es sich dabei um einen Film handelt, in dem gezeigt wird, wie ein Waisenkind in die schwarze Magie eingeführt wird. Die Vorinstanz, das OVG (Oberverwaltungsgericht) Münster, hatte den Eltern noch Recht gegeben.26)
In mehreren Fällen, in denen moslemische Schülerinnen nicht an einem gemeinsamen Sportunterricht mit Jungen teilnehmen wollten, hatte das BVerwG im Jahr 1993 einen Anspruch auf Befreiung aus Gewissensgründen eingeräumt, da es dem Gewissenskonflikt der Schülerinnen, der sich für sie durch die als verbindlich angesehenen Bekleidungsvorschriften des Koran ergab, Vorrang gegenüber der Schulpflicht einräumte.27)
Nach der Entscheidung des BVerfG von September 2013 müssen jedoch auch moslemische Schülerinnen den koedukativen Schwimmunterricht besuchen, wenn sie dabei einen sog. „Burkina“28) tragen können; dies gelte auch für gemeinsamen Unterricht mit männlichen Schülern.29)
Auf dem Gebiet des Arbeitsrechts ist die Gewissensfreiheit oftmals berücksichtigt worden:
So hat das LAG (Landesarbeitsgericht) Düsseldorf in einer Entscheidung aus dem Jahr 1992 die gewissensmäßig begründete Weigerung eines städtischen Musikers anerkannt, an der Inszenierung einer Aufführung mit blasphemischem Text mitzuwirken.30)
Auch Arbeitsverweigerung aus pazifistischer Motivation wurde in mehreren Fällen vom BAG anerkannt.31)
Auch der EGMR ist nicht gewillt, den Gewissensschutz von Eltern zu gewährleisten, die ihre Kinder vom Sexualkundeunterricht fernhalten wollen. So hat er im Jahr 2011 in einem Urteil für mehrere Fälle gleichzeitig entschieden, dass Kinder auch dann den Sexualkundeunterricht und andere schulische Veranstaltungen besuchen müssen, wenn ihre Eltern dies aus Gewissensgründen ablehnen. Auch Gefängnisstrafen, die im Weigerungsfall verhängt werden, seien rechtmäßig. Der EGMR führte zur Begründung aus, das deutsche Schulsystem, welches Heimunterricht verbietet und die allgemeine Schulpflicht vorsieht, diene der Integration der Kinder und beuge damit der Entwicklung von Parallelgesellschaften vor. Aus der EMRK ließe sich kein Anspruch herleiten, nicht mit anderen Meinungen konfrontiert zu werden. Ferner wird behauptet, dass der Sexualkundeunterricht weltanschaulich neutral ausgestaltet sei. Ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1, der den Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit beinhaltet oder gegen andere Normen der EMRK wird somit vom EMGR verneint.
Auch in der Rechtswissenschaft wird der Gewissensschutz von vielen sehr eng ausgelegt oder überhaupt nicht ernst genommen. So äußerte sich ein namhafter Jurist wie folgt: „Ein schlechtes Gewissen soll derjenige haben, der ein gutes Gewissen ausschließlich auf Kosten seiner Rechtsgenossen haben möchte“.32)
Ferner lässt sich feststellen, dass Gewissensentscheidungen, die auf der Grundlage des Islam beruhten, von Behörden und Gerichten im Großen und Ganzen im größerem Umfang anerkannt werden als solche, die auf christlicher Überzeugung beruhen.
Auch aus dem Ausland gibt es seit einigen Jahren zahlreiche Beispiele der Missachtung des christlichen Gewissens und Versuche, entsprechende Gewissensentscheidungen mit staatlichen oder arbeitsrechtlichen Zwangsmaßnahmen zu sanktionieren oder zu berechnen:
In Schweden, das als besonders liberal gilt, werden Ärzte, Krankenschwestern und Hebammen gezwungen, neben ihrem Dienst für das Leben auch an Abtreibungen mitzuwirken. Wer sich weigert, verliert seine Anstellung. So wurde erst kürzlich die schwedische Hebamme Ellinor Grimmark entlassen, weil sie sich aus Gewissensgründen weigerte, an Abtreibungen mitzuwirken.
Bereits im Sommer 2014 wurde der Leiter eines Warschauer Krankenhauses, Prof. Bogdan Chazan, von der Oberbürgermeisterin von Warschau nach jahrzehntelanger vorbildlicher Arbeit entlassen, weil er sich nicht nur weigerte, an Abtreibungen teilzunehmen, sondern auch, einer abtreibungswilligen Frau die Anschrift eines abtreibungswilligen anderen Arztes mitzuteilen.
In England handelte ein Ehepaar als Inhaber einer Pension aus Gewissensgründen seit Eröffnung ihrer Pension im Jahr 1986 nach dem Grundsatz, nur an Ehepaare Zimmer zu vermieten. Als sie sich weigerten, einem homosexuellen Paar ein Zimmer zu vermieten, wurden sie wegen „Diskriminierung“ verklagt und zur Zahlung von Schadensersatz i.H. von 1.800 Pfund an jeden der beiden Homosexuellen verurteilt.33 Dieses Urteil wurde schließlich vom Obersten Gericht in London bestätigt.
Umgekehrt wird die – strafrechtlich verbotene oder zumindest standesrechtswidrige – Beihilfe von Ärzten zum Selbstmord neuerdings verschiedentlich unter dem Aspekt der Gewissensfreiheit gerechtfertigt.34)
Dies ist jedoch nach den unter 2. genannten Kriterien für eine schützenswerte Gewissensentscheidung aus zwei Gründen ausgeschlossen: Denn zum einen sind und bleiben Ärzte kraft ihres Auftrags dazu verpflichtet, Menschen zu heilen und nicht zu töten oder an deren Tötung mitzuwirken und zum anderen wird wohl kein Arzt behaupten können, sein Gewissen gebiete ihm, einem Patienten durch aktives Tun, etwa durch Überlassen von Gift, bei der Verübung des Selbstmordes behilflich zu sein, sodass er in einen Gewissennotstand geriete, wenn ihm dies von der Rechtsordnung untersagt bleibt. Ein Arzt, der so handelt, wird allenfalls behaupten können, dass sein Gewissen ihm dies erlaube. Aber selbst wenn ein solcher Arzt tatsächlich glaubhaft macht, dass sein Gewissen ihm dies aufgrund seiner weltanschaulichen Haltung gebiete, so wäre eine solche Gewissensentscheidung nicht schutzwürdig, denn eine solche kann es niemals rechtfertigen, einen anderen Menschen zu töten oder zu einer Selbsttötung Beihilfe zu leisten. Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern dass der Patient mit seinem Tod einverstanden war und, diesen selbst herbeiführen wollte. Denn nach unserer Rechtsordnung hat niemand das Recht, in seine Tötung einzuwilligen. Auch die Straflosigkeit des Selbstmordes ändert nichts daran, dass dieser dem Wertsystem des Grundgesetzes widerspricht, und zwar dem Sittengesetz, das gem. Art. 2 Abs. 1 GG eine Schranke der persönlichen Handlungsfreiheit darstellt. Dass die herrschende Meinung diese Grundgesetzbestimmung de facto für bedeutungslos oder abgeschafft erklärt35, vermag hieran nichts zu ändern, ebenso wenig, dass die Tendenz in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft immer mehr dahin geht, das Selbstbestimmungsrecht des Menschen bis hin zum Recht auf Selbstmord und dementsprechend auch zur Beihilfe dazu auszudehnen. Denn hierdurch kann das Grundgesetz nicht außer Kraft gesetzt werden und das christliche Sittengesetz erst recht nicht.

5. Zusammenfassung und Ausblick

Als Ergebnis dieser Untersuchung wäre als erstes festzustellen, dass sich die für Staat und Gesellschaft, Rechtsordnung, Unterricht und Erziehung geltenden Normen und Werte in Deutschland und zahlreichen anderen Staaten der EU schon weit von den Zehn Geboten und vom christlichen Sittengesetz entfernt haben und noch immer weiter entfernen. Zugleich wird die Berufung von Christen auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit immer mehr erschwert, insbesondere hinsichtlich der Befreiung von Schülern von Unterrichtsfächern und -inhalten, die mit dem Gewissen der Schüler oder ihrer Eltern nicht zu vereinbaren sind. Hierzu bedient sich die – und zwar auch und v.a. – höchstrichterliche Rechtsprechung verschiedener Argumente, mit denen sie das grundgesetzlich und europarechtlich gebotene Ergebnis des Rechts auf Verweigerung der Teilnahme umgeht. Hierzu zählt z.B. die offenkundig unzutreffende Behauptung, wonach der Sexualkundeunterricht auf wissenschaftlicher Grundlage beruhe und weltanschaulich neutral sei.
Diese Tendenzen werden auch durch die EU-Institutionen, insbesondere auch durch den EGMR, nicht abgeschwächt, im Gegenteil, man wird sagen müssen, dass die Anerkennung der Homosexualität und der Durchsetzung des Gender Mainstreaming zur Staatsideologie der EU gehört, die EU-weit durchgesetzt werden soll, und zwar nicht zuletzt auch im schulischen Unterricht. Auch der EGMR wird sich nicht für den Gewissensschutz betroffener Eltern und Schüler einsetzen.
Auch das Recht von Ärzten, Krankenschwestern und anderen Mitarbeitern, die Mitwirkung an Abtreibungen zu verweigern, dürfte europaweit immer mehr in Frage gestellt werden, da die Zulässigkeit der Abtreibung als wesentliches Element der Selbstbestimmungsrechts der Frau angesehen wird und damit praktisch ebenfalls als Element der Staatsideologie der EU gilt. Da wird es auf Dauer nicht toleriert werden, wenn Menschen sich aus Gewissensgründen, insbesondere, wenn diese christlich motiviert sind, einer Mitwirkung an der „Verwirklichung dieses Rechts“ verweigern.
Schließlich wird auch die Verweigerung der Vermietung von Wohnungen, Hotelzimmern u.a. EU-weit unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung nicht akzeptiert werden, sondern Schadensersatzansprüche zur Konsequenz haben.
Auf der anderen Seite ist damit zu rechnen, dass „Gewissensentscheidungen“ zugunsten Abtreibung, Euthanasie und Beihilfe zum Selbstmord zunehmend anerkannt werden.
Der – von den Gerichten anerkannte oder verweigerte – Gewissensschutz wird somit zu einem Hebel, mit dessen Hilfe nach heutigem Verständnis rechts- und gesellschaftspolitisch erwünschte Ergebnisse gefördert und unerwünschte Ergebnisse verhindert werden können.36)
Dennoch dürfen, ja müssen gläubige Christen auch dort, wo ihre Gewissensentscheidung vom Staat nicht anerkannt wird, nach ihrem an Gottes Wort gebundenen Gewissen handeln, denn es gilt hier: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29) und „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21), auch wenn dies mit schweren Nachteilen, staatlichen Zwangsmaßnahmen und Repressionen für sie verbunden ist. Dies gilt auch in Anbetracht der sehr traurigen Tatsache, dass die meisten Kirchen, Freikirchen und christlichen Verbände in Deutschland und anderen EU-Staaten diesem biblischen Grundsatz nicht folgen werden, sondern ihren Mitgliedern die Anpassung an die geltenden oder vorherrschenden juristischen und gesellschaftlichen Normen empfehlen werden (selbstverständlich mit frommen, ja sogar biblischen Worten) und darüber hinaus sogar den standhaften Glaubensgeschwistern in den Rücken fallen werden. Hierfür gibt es schon jetzt zahlreiche Beispiele. Millionen verfolgter Christen v.a. in islamischen und kommunistischen Staaten sind demgegenüber seit vielen Jahrzehnten bereit, Geld und Gut, Ehre, Ansehen und Freiheit, ja selbst ihr Leben für ihr Bekenntnis zu Jesus Christus und sein Wort aufs Spiel zu setzen. Auch die Christen in Europa müssen bereit sein, um ihres Herrn willen das zu tragen, was Gott ihnen in der Zeit, in der wir jetzt stehen, auferlegt hat.
Darüber hinaus bleibt es Aufgabe christlicher Publizistik, auf die zunehmende Abkehr von Gesetzgebung und Rechtsprechung von den Geboten und Ordnungen Gottes und die daraus resultierende Diskriminierung und Bedrängnis gläubiger Christen in der deutschen, europäischen und weltweiten Öffentlichkeit hinzuweisen, um diese Vorgänge und die von ihnen Betroffenen dem Mantel des Schweigens zu entreißen und um dadurch rechtlichen Beistand und Fürbitte zu ermöglichen. Hierzu will ich mit dieser kurzen Darstellung einen kleinen Beitrag leisten.

Quellen:
1) So äußerte sich sehr treffend der norwegische Theologe Ole Hallesby (in: Vom Gewissen, Brockhaus-Verlag, Wuppertal, 2. Taschenbuchaufl. 1988, S.7).
2) So wird tatsächlich in Deutschland und in anderen Staaten von einflussreichen politischen Kräften erwartet, dass Abtreibungsgegner auf den Beruf des Frauenarztes verzichten; vgl. z.B. Büchner in: Bernward Büchner/ Claudia Kaminski/Mechthild Löhr (Hg.), Abtreibung als Menschenrecht?, SINUS Verlag GmbH, Krefeld, 2012, S.73; Vladimir Palko, Die Löwen kommen, fe-Medienverlags GmbH, Kislegg, 2014, S.469.
3) § 12 Abs. 1 SchKG: ”Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken”.
4) BVerfGE 12, 45 ff., 55; 48, 127 ff., 173; BVerwGE 127, 302 ff, 325 ff.; BAGE 62, 59 ff., 68.
5) BVerwGE 127, 302 ff., 328; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Verlag C.H. Beck, München, Art. 4 GG, Rn 45.
6) BVerfGE 78, 391 ff., 395; BVerwGE 127, 302 ff., 327; Jarass in: Jarass/Pieroth aaO, Art. 4 GG, Rn 46.
7) Jarass in: Jarass/Pieroth aaO, Art. 4 GG, Rn 48.
8) Vgl. z.B. BVerwGE 127, 302 ff., 359.
9) Jarass in: Jarass/Pieroth aaO, Art. 4 GG, Rn 49.
10) Jarass in: Jarass/Pieroth aaO, Art. 4 GG, Rn 49 mwN.
11) BVerwG NVwZ 1987, 695.
12) Vgl. z.B. BVerfGE 69, 1 ff., 23; BVerwGE 83, 358 ff., 371.
13) Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, C.H. Beck Verlag, München, 2005, § 22, Rechte der Person, Rn 86 mN.
14) Grabenwarter aaO mN.
15) Grabenwarter aaO mN.
16) BVerwGE 60, 278 ff., 282 bzw. 60, 336 ff., 338.
17) Vgl. Büchner in Bernward Büchner/Claudia Kaminski/Mechthild Löhr (Hg.) aaO, S.60.
18) Büchner aaO, S.60 f., der mit dieser Aussage einen früheren Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Gynä-kologie und Geburtshilfe zitiert.
19) Idea Spektrum 41/10, S.11 (”Christen atmen auf: Europarat schützt die Gewissensfreiheit”).
20) BVerfGE 47, 46 f.
21) So BVerfG Beschluss v. 31.05.2006 (2 BvR 1693/04), in dem eine Verfassungsbeschwerde strafrechtlich ver-urteilter Eltern ebenfalls nicht zur Entscheidung angenommen worden war; ähnlich BVerfG Beschluss v. 21.07.2009 (1 BvR 1358/09).
22) So noch BVerfGE 98, 218 ff., 244 f.; Pieroth in: Jarass/Pieroth aaO, Art. 7 GG Rn 5. Seit einigen Jahren ist das BVerfG jedoch der Auffassung, dass das staatliche Erziehungsrecht Vorrang vor dem elterlichen Erzie-hungsrecht habe.
23) Pieroth in: Jarass/Pieroth aaO, Art. 7 GG, Rn 5 mwN.
24) Abgesehen davon, dass die Sexualaufklärung von Vornherein Aufgabe der Eltern und nicht des Staates ist, da nur die Eltern auf der Grundlage des auf dem Eltern-Kind-Verhältnis gründenden Vertrauens hierzu mit der not-wendigen Feinfühligkeit und in der dem einzelnen Kind angemessenen Art und Weise in der Lage sind.
25) BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 6 C 12.12.
26) OVG Münster, Urteil v. 22.12.2011 19 A 610/10.
27) BVerwGE 94, 82.
28) Ein ”Burkini“ ist ein zweiteiliger Schwimmanzug für moslemische Frauen mit integrierter Kopfbedeckung, der den Normen des islamischen Rechts entspricht. Außer Händen, Füßen und dem Gesicht wird der ganze Kör-per der Trägerin bedeckt.
29) BVerwG Urteil vom 11.09.2013 6 C 25.12.
30) KirchE 30, 313 ff.
31) BAG Urteil v. 20.12.1984 und Urteil v. 24.05.1989.
32) zitiert bei Büchner aaO, S.60.
33) Palko aaO, S.362-365 sowie zahlreiche weitere Beispiele aus EU-Staaten, den USA und Kanada bei Palko aaO, S.320-395.
34) So VG (Verwaltungsgericht) Berlin, Urteil v. 30.03.2012 (VG 9 K 63.09), zitiert in ZfL (Zeitschrift für Le-bensrecht), 03/14, S.53
35) Vgl. z.B. Jarass in Jarass/Pieroth aaO, Art. 2 GG, Rn 19.
36) Vgl. dazu näher Manfred Müller, Das veruntreute Gewissen, Medizin und Ideologie 4/14, S.6 ff., 12 ff.






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